Donnerstag, 31. Oktober 2013

Architekturfotografie; II.


aus NZZ, 26. 10. 2013

Was uns der Schatten lehrt
Eine Begegnung mit der in London tätigen Architekturfotografin Hélène Binet

Der Architekturfotografin Hélène Binet kommt es nicht in erster Linie darauf an, ein Gebäude vollständig zu erfassen. Sie interpretiert es, wie eine Musikerin eine Komposition. Ihren Fotos wird gelegentlich eine Nähe zu Traumbildern nachgesagt. Und natürlich, sagt sie, sei sie selbst in jeder ihrer Aufnahmen enthalten.

von Marion Löhndorf

Auch wenn darin fast nie Menschen zu sehen sind, sind ihre Aufnahmen doch nicht menschenleer: Der Betrachter ist eingeladen, die von Hélène Binet wiedergegebene Architekturlandschaft zu betreten und selbst zu erleben: «Aber ich mache keine absolute Aussage über das Bauwerk.» Binet glaubt, dass die Wiedergabe auch nur einer einzigen Figur in einer Foto das Bauwerk bestätige, und das möchte sie vermeiden. Manche Fotografen, wie etwa Lucien Hervé, den sie verehrt, seien «fast Reporter» gewesen. Sie aber arbeitet anders: «Ich bin mehr am ursprünglichen Konzept interessiert, am Traum des Architekten - etwas Immateriellem, als er das Gebäude zum ersten Mal imaginierte und es noch unscharf war. Das versuche ich in meiner Arbeit zu vermitteln.»


Theatralische Elemente

Geboren wurde Hélène Binet 1959 in Sorengo im Tessin als Tochter französisch-schweizerischer Eltern. Aufgewachsen ist sie in Rom, geprägt von der klassischen Architektur. Sie war von früh auf umgeben von Künstlern wie Jean Petit, der mehrere Bücher über Le Corbusier schrieb. Ihre Eltern waren Musiker, ihr Grossvater der Komponist Jean Binet. Sie studierte Fotografie am Instituto Europeo di Design in Rom. Ihre Zwischenstation als Theaterfotografin am Grand Théâtre de Genève mag Spuren in ihrem Sinn für theatralische Elemente in der Architektur hinterlassen haben. Dann kam sie nach London, begann Architektur zu fotografieren, angeregt durch ihren Mann, den Architekten Raoul Bunschoten. Dieser stellte sie Daniel Libeskind und John Hejduk vor, der ihr Mentor werden sollte. An der einflussreichen Architectural Association School of Architecture (AA) traf sie viel später andere gefeierte Architekten, darunter Zaha Hadid und David Chipperfield.



Atmosphärisch profitierte sie von der investigativen Neugier und Aufbruchstimmung in der Architekturszene der 1980er Jahre. Der grosse Architekturlehrer der AA, Alvin Boyarsky, gab Hélène Binet die Gelegenheit, die Werke von Sigurd Lewerentz und Dimitris Pikionis zu fotografieren: Diese Arbeiten sollte Peter Zumthor eines Tages sehen. Sie führten dazu, dass er Binet, die Zumthor vorher nicht kannte, als Fotografin seines Werks verpflichtete. Dabei entstanden Fotografien, die der Liebe zum Schatten in Peter Zumthors Werk nachspüren, seiner eher introvertierten, sich nicht auf den ersten Blick erschliessenden Anmutung und der Belebung des Materials durch die Betonung des Sensorischen, die in Zumthors Werk eine so grosse Rolle spielt.

 
Bei aller Investigations- und Interpretationslust ist das Gebäude der Stoff, von dem Hélène Binet ausgeht: «Ich arbeite wie ein Musiker. Die Noten gehören zum Komponisten einer bestimmten Zeit. Ich würde die Musik einer anderen Zeit nicht spielen wie zeitgenössische Musik. Ich möchte der Welt und dem Werk des Architekten nahe sein. Und ich benutze die Architektur nicht nur, um meine eigenen Gedanken auszudrücken. Ich spiele die Idee des Architekten, gebe ihr einen Klang und fühle dabei zugleich, dass es mein eigener ist. Ich interpretiere Zumthor und Zaha nicht auf dieselbe Weise.» Man könnte sagen, dass sie Zaha Hadids kühnen Linien leisere Noten abgewinnt und den asketischeren Entwürfen Peter Zumthors dramatische Akzente hinzufügt. In den vergangenen 25 Jahren fotografierte sie sowohl zeitgenössische Bauten von Raoul Bunschoten, David Chipperfield, Peter Eisenman oder Caruso St John als auch moderne und historische Architektur von Sverre Fehn, John Hejduk, Geoffrey Bawa, Dimitris Pikionis, Alvar Aalto, Sigurd Lewerentz, Le Corbusier oder Andrea Palladio. Libeskind sagte über ihren sensiblen, unsentimentalen Blick: «Jedes Mal, wenn Hélène Binet eine Foto macht, legt sie die Leistung, die Stärke, das Pathos und die Zerbrechlichkeit der Architektur bloss.»


Unterschiedliche Annäherungen

Hélène Binet vertieft sich in das Werk der Architekten, mit denen sie sich befasst, nicht zuletzt mithilfe von Literatur und - weil sie seit mehr als zwanzig Jahren in dem Metier tätig und selbst mit einem Architekten verheiratet ist - wohl auch durch Osmose. Es geht ihr in ihrer Arbeit um die Berührung verwandter künstlerischer Sensibilitäten: «Die Annäherung ist jedes Mal eine andere. Manchmal bin ich als Erstes mit dem Gebäude konfrontiert, manche Architekten zeigen mir ihr Werk, und andere ziehen es vor, mit mir essen zu gehen. Einige begleite ich in ihr Studio, sehe, was ihn oder sie umgibt, die Bücher, die Farben, die Musik - man betritt dann eine Welt. Es ist nicht immer etwas Präzises, das sich da mitteilt, aber man erspürt etwas und baut darauf auf. Auch die Entwürfe anzusehen, ist schön.»


Hélène Binets eigene Werkstatt liegt im Norden Londons, in einem versteckten Hinterhaus in Kentish Town. Man betritt ihr Studio durch einen grün überwachsenen Innenhof, und die Grossstadt, die um die nächste Ecke noch dröhnt und schubst, kommt dort zum Stillstand. So, wie die Fotografin sich im Wesentlichen auf Schwarz-Weiss-Fotografie konzentriert, ist auch ihr Studio eine Welt in Sepiafarben, Grau, Braun und Schwarz.

Poesie der Nüchternheit

Jeder Gegenstand - Arbeitstische, Regale voller Bücher und Fotos - ist auf die Arbeit bezogen, zeigt Spuren des Benutztwerdens und ist eben nicht zum Vorzeigen gedacht. Kein Objekt steht wie zufällig dort, keines, vom Holzstuhl bis zum Schemel, sieht schwerfällig aus: Es ist eine Poesie der Nüchternheit, wie sie sich auch auf manchen ihrer Fotos andeutet. Etwa in ihren Arbeiten über die Londoner Kirchen von Nicholas Hawksmoor (zirka 1661-1736), in denen sich Einflüsse vieler Kulturen spiegeln. An ihnen entdeckte sie geheimnisvolle, oft unbeachtete Winkel und betonte das Drama, die Strenge und die Ungewöhnlichkeit ihrer Strukturen. Da der Architekt, ein Freimaurer mit Vorliebe für heidnische Symbole, sich mit ungewöhnlichen Türmen - ein Erkennungsmerkmal seiner Arbeit - auf die Stadt beziehen wollte, begab sich Binet auf ihre Höhe und fotografierte sie von umliegenden Gebäuden aus. So machte sie die Dimensionen der Hawksmoor-Kirchen im Verhältnis zu ihrer Umgebung erfahrbar. «Christ Church in Spitalfields zum Beispiel hat verrückte Grössenverhältnisse. Und Nicholas Hawksmoor selbst war ein sonderbarer Charakter - auch damit wollte ich ein bisschen spielen», sagt Hélène Binet. Ihre fotografischen Befragungen seines Werks waren 2012 an der Architekturbiennale in Venedig und in einer Ausstellung des Somerset House in London zu sehen - in kühnen Grossformaten.


Konzentration, Vertiefung und Zuspitzung gehören zu den Merkmalen von Binets Arbeit. Ihren Aufnahmen ist nicht nur die Kunst des genauen Hinsehens eingeschrieben, sondern auch das Nachdenken über die Motive, über Architektur und Fotografie. Man hat ihren Fotos, den Ergebnissen nahezu meditativer Vertiefung, gelegentlich die Nähe zu Traumbildern nachgesagt. Je länger sie ein Gebäude, das sie fotografiert, in sich aufnehmen könne, desto besser, findet sie. So hielt sie sich im Kunstmuseum Kolumba, das Peter Zumthor für das Erzbistum Köln schuf, fast zwei Wochen auf, um den Bau in unterschiedlichen Licht- und Schattenverhältnissen an verschiedenen Tageszeiten zu erleben und kleine Dinge wie das Zusammenspiel zweier Materialien zu entdecken.


 
Zu dieser Arbeitsweise passt Binets Ablehnung praktischer und schneller Digitalfotografie: «Mit Film zu arbeiten, ist eine ganz andere geistige Erfahrung. Es ist teuer, es ist schwer - daher muss man vorbereitet sein. Es ist kostbar, und so muss man bei jeder Foto sagen können: Das ist der Moment! Jetzt! Ich glaube wirklich daran, dass die Seele der Fotografie ihre Beziehung zu einem einzelnen Moment ist. Und die Konzentration ist eine ganz andere. Das Licht verändert und bewegt sich ständig. Es ist wie eine Performance, besitzt Eigendynamik.»


Dass die Architekturfotografie sich mit dem in den vergangenen Jahren enorm gestiegenen Interesse an der Architektur verändert hat, begrüsst Hélène Binet: «Heute ist das Interesse an und das Wissen über Architektur sehr gewachsen. Das ist gut, denn die Architektur ist ein so wichtiger Teil unseres Lebens. Sie ist zugänglicher geworden. Ikonische Gebäude sind Reiseziele geworden, das Reisen selbst wurde einfacher, es gibt mehr Bücher zum Thema, mehr Fotografen. Viele arbeiten in hoher Qualität. Zugleich macht jeder Architekturinteressierte seine eigenen Fotos mit dem Smartphone. Kaum erhebt sich ein Gebäude nur ein paar Meter über den Boden - noch als Baustelle -, gibt es die ersten Fotos. Visuelle Information ist allgegenwärtig.» Beunruhigend findet Hélène Binet das nicht: «Früher wurde die Architekturfotografie fast als Teil der Arbeit betrachtet, Architekten wie Le Corbusier investierten viel in die Fotografie, die ihre Arbeit repräsentieren sollte. Sie mussten sich stärker darauf verlassen. Heute habe ich diese Verantwortung nicht mehr, denn eine Foto braucht nicht mehr alles über ein Bauwerk mitzuteilen. Das empfinde ich als befreiend. Ich kann mich auf meine Arbeit konzentrieren. Ich glaube, dass die Architekturfotografie unabhängiger wurde.»


Zu den Fotografen, die ihre Arbeit beeinflussten, gehören Lucien Hervé, László Moholy-Nagy und Judith Turner. Deren Werk lehrte sie in ihren Anfangsjahren, dass Architekturfotografie sehr reich sein kann. Denn natürlich will Binet mit ihrer Arbeit Aussagen treffen, die über die Architektur hinausgehen. «Ich mag die Stille und die Reduktion als Weg der Verbindung zu etwas Grösserem. Wenn zu viel Lärm um uns herum ist, wenn zu viel passiert, findet das nicht statt. Ich bin zwar nicht von der Reduktion um ihrer selbst willen fasziniert - aber sie erlaubt uns, eine einzelne Sache ganz genau wahrzunehmen.» Sie spricht von einem Observatorium in Jaipur - «nur ein kleiner Schatten kann uns mit dem Rest des Universums verbinden» -, von Peter Zumthors Therme Vals, einem Bau aus «Stein, Wasser und Licht», und seiner Bruder-Klaus-Kapelle auf einem Feld in Deutschland. Die Grösse eines Gebäudes rufe die erste und stärkste emotionale Reaktion hervor: «Wenn ein Objekt kleiner ist, gibt es fast eine physische Verbindung. Wenn es gross ist, habe ich immer das Gefühl, an einer anderen Stelle darin sein zu müssen.»


Schatten als Thema

Der aufwendig gestaltete Bildband «Composing Space» (erschienen 2012 bei Phaidon in London) lädt zu einem Spaziergang durch das Werk der Fotografin und durch ein Stück Architekturgeschichte zugleich ein. Hélène Binet hat die Zusammenstellung und Auswahl selbst übernommen und damit das Buch gewissermassen kuratiert. Zwischentitel wie «Memory», «Materiality» und «Ground» lassen dem Betrachter Spielraum für die eigene Imagination - so wie ja auch ihr Werk eine subtile Balance zwischen formaler Geschlossenheit und Offenheit hält. Die vielen Schwarz-Weiss-Aufnahmen werden nur gelegentlich von Farbabbildungen unterbrochen: «Man betrachtet ein Gebäude und sieht, was es im Laufe eines Tages oder der Zeit tut; all diese kleinen Phänomene, die ein Bauwerk erzeugen kann. Eine Art, ein Gebäude zu sehen, ist die Farbe. Manchmal mag ich Farbe. Ich habe nicht die Absicht, etwas Obskures zu erschaffen. Aber wenn man reduziert, dann ist es, wie Aristoteles sagt: Man hört besser im Dunkeln.» Natürlich seien da auch die Schatten - ein grosses Thema in ihrer Kunst -, die sie als Abwesenheit von Energie mit der Stille vergleicht. Schatten könnten einen aber auch in die Irre führen, sagt sie, «weil man das Gefühl haben kann, dass man da noch etwas anderes sieht. In anderen Kulturen aber hat es diese Interpretation des Schattens schon immer gegeben: Schatten führten immer zu etwas anderem.»

Nota.

Das ist ja alles schrecklich maniriert. Sie fotografiert, als solle man nicht erkennen können, dass es sich um Häuser handelt. Sie hat ja auch eine Vorliebe für ArchitektInnen, die so bauen, als dürfte man nicht erkennen, dass es sich um Häuser handelt; und das ist des Schönen etwas viel. Wie konnte das der Rezensentin nicht auffallen?
JE


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen