Mittwoch, 1. Januar 2014

Das ästhetische Urteil fundiert den Verstand.


Ästhetische Wahrnehmung unterscheidet sich phänomenal von andern Arten des Wahrnehmens dadurch, daß hier das Zur-Kenntnis-Nehmen von Sinnesdaten "uno actu" zusammenfällt mit deren Bewertung; während beim 'verständigen' Wahrnehmen die Sinnesdaten zunächst in Hinblick auf Begriffe (=vorgegebene Bedeutungs- komplexe) geordnet, und erst danach einem Urteil unterzogen werden. Das ästhetische Wahrnehmen erscheint insofern als primitiv, mindestens naiv, gegenüber dem sachlichen Verstehen von 'Etwas'. Aber das ist eine optische Täuschung. Für den Verstand (cognitio) liegt die 'Wertigkeit' in der relatio des jeweils Wahrgenommenen mit anderen, früher Wahrgenommenen; und muß also, qua Reflexion, erst erdacht werden: nachträglich. Fürs ästhetische Wahrnehmen liegt der 'Wert' dagegen in der qualitas des Wahrgenommenen - und die "zeigt sich" als solche. (Wenn Max Scheler sagt, 'Wertnehmung geht der Wahrnehmung voran', dann heißt das nur, daß sich die ästhetische Wahrnehmungsweise apriori "immer schon" ins verständige Wahrnehmen eingeschlichen hat - welches aposteriori kommt und allenfalls versuchen kann, erstere kritisch zu exorzisieren.)* Insofern ist ästhetisches Wahrnehmen nicht 'primitiv', sondern 'fundierend'; wenn auch nicht in jeglicher Hinsicht brauchbar.


*Nachtrag 2014

Historisch wird es andersherum gewesen sein. Das die Familie Homo vor allen Tieren auszeichnende poietische Vermögen, nämlich die Fähigkeit überhaupt, Qualitäten als solche aufzufassen, zu werten und gegeneinander zu gewichten, hat sich mit dem Übergang zu Sesshaftigkeit und Ackerbau, mit dem Aufkommen der Arbeitsgesell- schaft, zum verständigen Kalkül der kurz- und langfristigen Vor- und Nachteile vereinseitigt: zum Verstand. Darüber hinausgehende Urteile über das Gute und Schöne wurden als feiertäglicher Luxus beiseitegetan und als legitimierendes Privileg von den herrschenden Klassen usurpiert. Mit der Entfaltung der Arbeitsgesellschaft zur Großen Industrie hat sich die Nützlichkeit dann auch die inzwischen herrschende Klasse, die Bourgoisie, ganz unterworfen und hat der Vorteil auch Ethik und Ästhetik durchsetzt; sie überlebten als Erbauung und Erholung vom geschäftigen Alltag.

Mit der Folge, dass ästhetisches Wahrnehmen heute einen besondern Akt der Reflexion voraussetzt.

  

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