Mittwoch, 8. Januar 2014

Woran scheiterte die russische Avantgarde?

aus NZZ, 8. 1. 2014                                                                                Jakow Tschernichow, Architekturphantasie

Mühen der Avantgarde
Eine Architekturausstellung in Berlin

von Jürgen Tietz · Im Westen gelten die sowjetischen Konstruktivisten als Heroen der Moderne, als unerschöpfliche Quelle einer ewigen Avantgarde. Doch diese Liebe erweist sich als recht einseitig, denn im Russland der Gegenwart verfällt ihr gebautes Erbe zusehends. Gründe für diese Zurückhaltung gegenüber den Konstruktivisten zeigt die zweite Ausstellung im neuen Berliner Museum für Architekturzeichnung auf und will damit zu einer Kontroverse anregen. 

Pressepalast in Baku

Unter dem Titel «Architektur im Kulturkampf» bringt sie ihren Besuchern die neoklassizistische Architektur Russlands vor dem Ersten Weltkrieg näher, u. a. mit Zeichnungen Iwan Fomins. Dem stellt sie ausgewählte Blätter der Konstruktivisten gegenüber. Doch der kurzen Blüte des Konstruktivismus folgte die schnelle Rückkehr der Neoklassizisten, nun im stalinistischen Gewand. So bei Boris Iofans Entwurf für den Palast der Sowjets oder bei Leonid Poljakows und Alexander Boretskis Entwurf für das Moskauer Hotel Leningradskaja. Ausstellung und Katalog vertreten dabei die These, dass viele russische Architekten nur zu gerne den Duktus der Moderne wieder abstreiften, um sich unter Stalin auf das vertraute Terrain der traditionellen Architektursprache zurückzubegeben. Doch warum? Nur weil sie einst gelernt hatten, in diesem Stil zu entwerfen? Architektur ist stets das Kind ihrer Zeit, ist untrennbar in den politischen und kulturellen Kontext einer Epoche verwoben. Und so ist auch die Renaissance tradierter Würdeformeln in der Architektur wohl kaum allein den ästhetischen Vorlieben der Entwerfer geschuldet.

Bis 21. März in der Tchoban Foundation, Berlin. Katalog: Architektur im Kulturkampf: Russische und sowjetische Architektur in Zeichnungen. 1900-1953. Tchoban Foundation, Berlin 2013. 248 S., € 40.-.


aus tagesspiegel.de, 19. 12. 2013      Boris Iofans Entwurf für die Moskauer Staatliche Universität auf den Leninbergen, 1947. Foto: Tchoban Foundation

Von Italien lernen 

von  

Das Berliner Museum für Architekturzeichnung beleuchtet die russisch-sowjetische Baukunst von 1900 bis in die fünfziger Jahre. Berühmt sind die Entwürfe der Konstruktivisten, die Szene aber dominierten die Vertreter des stalinistischen Zuckerbäckerstils.

Russische Architektur ist mehr als Zwiebeltürme und Roter Platz. Die russische Literatur, die russische Musik zählen unstrittig zur Weltkultur; doch was in dem riesigen Land gebaut wurde, wird entweder als pittoresk wahrgenommen oder als Außenposten „westlicher“ Architektur wie in St. Petersburg. „Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hat die russische Architektur“, schreibt – wie zur Bestätigung – Wladimir Sedow, der führende Architekturhistoriker seines Landes, „das Weltniveau der herrschenden Strömungen und Stile immer bloß erreicht, nie übertroffen.“ Der Satz ist zu lesen im Katalogbuch der Ausstellung „Architektur im Kulturkampf“, die das Museum für Architekturzeichnung der Tchoban Foundation in seinem kleinen, feinen Neubau am Pfefferberg zeigt.

aus der Ausstellung

Rund 80 Zeichnungen fächern die Entwicklung der russischen Architektur von 1900 bis in die fünfziger Jahre auf. Mag das Wort „Kulturkampf“ zunächst etwas zu stark klingen, so zeigt der Rundgang tatsächlich ein solches beständiges Ringen. Und man weiß, dass dieses Ringen eine höchst reale Grundlage in der gewaltsamen Geschichte der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg hatte.

Freilich spiegeln sich die politischen Ereignisse nicht unmittelbar in der Architektur. 

El Lissitzki, Horizontaler Wolkenkratzer, 1923-25

Die Konstruktivisten hatten hochfliegende Pläne, konnten sie aber nur selten verwirklichen. Kirill Afanassjew entwarf 1929 eine Arbeitersiedlung als endlos lange Wohnscheibe – und wechselte 1932 ins Lager der Regimetreuen. Es ist das Paradox der Architektur unter dem nunmehr allgegenwärtigen Stalinismus, dass sie, anders als Literatur oder bildende Kunst, nicht einfach verarmte, sondern frühere Anlagen vervollkommnete, insbesondere den stets latenten Neoklassizismus. Es kam zu den eigentümlichsten Kreuzungen aus Neoklassizismus, Historismus und auch dem nach 1932 verfemten Konstruktivismus. Alexej Schtschussew, von dem mehrere Zeichnungen für das temporäre Lenin-Mausoleum von 1924 zu sehen sind, wies mit seinem Stilgemisch voraus auf die Architektur der dreißiger Jahre, als Säulen in Mode kamen, aber auch deren „rohe“ Abstraktionen in Gestalt von ungeschmückten Rundpfeilern.

Alexey V. Schusev (1873 – 1949), Roter Platz und Lenins Mausoleum,

Dann kamen die Wettbewerbe zum „Palast der Sowjets“. Sedow nennt das wichtigste Gebäude der Epoche „das Gespenst“. Boris Iofan, der sich schließlich als Hauptentwerfer durchsetzte und den immer größeren, immer weniger realisierbaren Turmbau in ebenso grandiosen Zeichnungen vorstellte, führte zeitlebens eine innere Auseinandersetzung mit seinen italienischen Vorbildern. Die in Berlin gezeigten Zeichnungen von Iofan, Iwan Scholtowski oder Iwan Fomin spiegeln auf je individuelle Weise diesen Italien-Komplex, der die russische Architekturgeschichte seit den Tagen der italienischen Kreml-Baumeister des 16. Jahrhunderts durchzieht. „Die neue Architektur der UdSSR und Stalins erforderte eine ungewöhnliche, ja gewaltige Bildung“, erläutert Sedow. „Die Architekten jener Zeit lernten ununterbrochen, schöpften ihre Kenntnisse aus Büchern, aus Studienreisen nach Italien und Griechenland, aus Vorlesungen ...“ Auf Moskaus Prachtstraßen finden sich die Ergebnisse solcher Studien wieder, als eigenständiger Stil des Stalinismus.

"Sieben Schwestern", Moskau

Wie dieser nach 1945 schematisch wurde, tatsächlich zuckerbäckerisch, ist in der Ausstellung gleichfalls zu sehen. Es entstand der Kranz der Moskauer Hochhäuser, aber es gab keine Entwicklung mehr. Die Konstruktivisten waren längst ausgeschaltet. Im Westen verbindet man allein mit ihnen die Vorstellung von innovativer Architektur. Die Ausstellung zeigt, dass die russisch-sowjetische Baukunst weit darüber hinaus höchst eigenständig ist.  

Museum für Architekturzeichnung, Christinenstraße 18a, bis 21. 3. 2014. Mo–Fr 14–19, Sa und So 13–17 Uhr. Katalog 248 S., 40 €.

 Charkow, Rat der Volkskommissare, 1934

Nota.

Ich hätte Ihnen gern ein paar Blätter aus der Tchoban-Samlung gezeigt, aber im Internet gibt es nichts. Stattdessen hier ein paar Bilder von Gebäuden, die wirklich errichtet wurden:

Erich Mendelsohn, Textilfabrik Rote Fahne, Leningrad 1925-37

Gosplan Parkhaus, Gesamtansicht um 1936; Melnikow u. a.

Zuyew Arbeiterklub, Moskau
 
Zentrojus-Gebäude, Moskau, Le Corbusier u. a.


Narkomfin-Gemeinschaftswohnanlage, Detailansicht, 1931. Architekten Moisej Ginsburg und Ignati Milinis, 1930

 Wohnanlage für GPU-Mitarbeiter, Moskau





Rusakow Arbeiterklub, Moskau; Melnikow

Schabolowka-Funkturm, Architekt Wladimir Schuchow, 1922

Den von den Rezensenten erwähnten unterschwelligen Klassizismus auch bei den Avantgardisten kann man darauf nicht sehen. Aber man sieht, dass die pauschale Bezeichnung Konstruktivismus, die in Russland üblich ist, nicht unserem Gebrauch entspricht. Vorherrschend war unter den Modernisten eine Neue Sachlichkeit, die wir heute Bauhausstil nennen. Aber phantasiereiche expressionistische Ausreißer fehlen auch nicht, wie Konstantin Melnikow. Und auffällig ist die Beteiligung westlicher Architekten beim Aufbau im frühen Sowjetrussland. Von Abhängigkeit will man vielleicht nicht gleich reden. Aber dass die avantgardistischen Sowjetarchitekten ihre westlichen Kollegen irgendwo übertroffen hätten, lässt sich eben auch nicht sagen; abgesehen freilich von den technischen Kabinettstücken Wladimir Schuchows, mit denen er allerdings schon unterm Zaren geglänzt hatte.
JE
 
Arkadi Mordwinow, Wjatscheslaw Oltarschewski; Entwurf für das Hotel Ukraine. 1948-1954

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