Samstag, 8. März 2014

Bild und Ausblick - die Kunstgeschichte des Fensters.

aus NZZ, 8. 3. 2014                                                                                                                    J. Chr. Dahl, Schloss Pillnitz; Ausschnitt   

Das Fenster als Bild
Wie die Renaissance die Aussicht entdeckte - und wie Bauten heute Ansichten generieren

von Gerd Blum 

Häuser können Ausblicke bildhaft inszenieren. Bereits in der römischen Antike wurde die Aussicht zum architektonischen Thema. Heute entstehen immer wieder Bauten, die vermittels ihrer Fensteröffnungen zu Bildgeneratoren werden - in der Tradition des in der Renaissance wiederentdeckten Ausblicksfensters. 

Das Fenster mit Aussicht ist ein zentrales Bildmedium der modernen und zeitgenössischen Architektur. Prominente Bauten bieten spektakuläre Ausblicke: So öffnet sich die Therme von Vals mit hochrechteckigen Aussichtsfenstern auf Bergwiesen, auf denen ein verspielter Riese Felsblöcke ausgestreut zu haben scheint - und die doch als massvoll umgrenztes und flächenhaft distanziertes Bild präsentiert werden. Eine unvergessliche Aussicht, die der Architekt Peter Zumthor hier eröffnet hat, eine steingewordene Metapher der architektonischen Bändigung des Zufalls. Der auf vier Seiten mit Fenstern geöffnete «Zentralraum» von Valerio Olgiatis Haus in Wollerau bietet - in der Nachfolge von Palladios Rotonda - in jede Richtung bildhaft gerahmte Aussichten, um den Blick und die Aufmerksamkeit nicht durch das weite Panorama des Zürichsees zu «zerstreuen», wie Olgiati sagt. «Landschaften» an den Wänden würden hier nur stören - der Architekt und Designer Otto Kolb, jüngst mit einer Monografie des Zürcher GTA-Verlags gewürdigt, sprach vom «Fenster als Bild». Bauten öffnen und rahmen Aussichten, die für Benutzer und Besucher genauso bedeutsam sind wie die Ansicht des Gebäudes von aussen, auf die sich die Forschung bis heute konzentriert.

Valerio Olgiatis Haus in Wollerau 

«Vana vista»

Licht- und Luftzufuhr, das waren zu allen Zeiten die wichtigsten Funktionen von Fensteröffnungen. Aussichtsfenster sind nicht immer und überall gebaut worden. Weite Ausblicke wurden jedoch bereits in der römischen Antike als besonderer Luxus von repräsentativen Villen betrachtet. Der Philosoph Seneca spottete, dass zur Zeit der römischen Republik die Baderäume kleine Luken gehabt hätten, nun aber gelte ein Badezimmer ohne grosse Fensteröffnungen und umfassende Ausblicke geradezu als Ungezieferwinkel. Zuvor hatte Plinius d. J. Aussichtsfenster und weite Landschaftsprospekte als unabdingbaren Bestandteil noblen Wohnens in der Villa folgenreich empfohlen. Ebenfalls im ersten Jahrhundert rühmte der Dichter Statius als Krönung seines literarischen Porträts einer Villa bei Sorrent deren Kunstkabinett und Fensterblicke. Laut Statius gewährt das Landhaus des epikureisch geschulten Pollius Felix dreifache Augenlust: dank den Bildwerken griechischer Künstler, den Äderungen polierter Marmortafeln, die als Gemälde der Natur präsentiert wurden, und den durch allseits angebrachte Fenster gerahmten Aussichten auf Capri, Ischia und andere Landmarken des Golfs von Neapel.

Peter Zumthor, Therme in Vals

Genau diese Verbindung zwischen Aussicht und Vergnügen führte im Mittelalter zu verbreiteter Ablehnung von Ausblick und Aussichtsfenstern. Der christlichen Spätantike galt es als Zeichen von besonderer Gottgefälligkeit und Askese, wenn Eremiten in ihren Zellen auf Fenster völlig verzichteten. Genussvolles Schauen auf die Schönheit der Natur wurde als sündhaft angeprangert, weil es von Kontemplation und Besinnung ablenke: «Und da gehen die Menschen hin und bewundern die Höhen der Berge, das mächtige Wogen des Meeres, die breiten Gefälle der Ströme (. . .) - und verlassen dabei sich selbst», hielt schon Augustinus fest. Wie wirkungsvoll die christliche Entwertung des genussvollen Schauens auf die Aussenwelt noch Mitte des 14. Jahrhunderts war, als Petrarca und Boccaccio bereits die Schönheit von Ausblicken auf Gärten und ländliche Gegenden ausdrücklich priesen, zeigt die Vita der Nonne Paola, die um 1350 einen Bauplatz für eine neue Klause suchte. Paola besichtigt einen verfallenen Garten innerhalb von Florenz, der ihr - in bester Lage - angeboten wird. Trotzdem lehnt die Nonne ab, weil die Aussicht «zu schön» sei. Die eitle Aussicht («vana vista») schade dem Geist der Gläubigen.

Jan van Eyck, Madonna des Kanzlers Rolin, um 1435

Ein Jahrhundert später wird der Humanist und Architekt Leon Battista Alberti die Aussicht als auszeichnendes Merkmal herrschaftlicher Paläste und Villen den Baumeistern geradezu vorschreiben. Auch er setzt voraus, dass Belüftung und Belichtung die eigentlich notwendigen Funktionen des Fensters sind. Aber er lobt ausdrücklich architektonisch gerahmte Aussichten als Garanten jenes Genusses und Vergnügens, die Palast und herrschaftliche Villa über ihre unmittelbaren Funktionen hinaus bieten sollten. Zugleich veranschauliche der Ausblick auf weites Land und Berge die Macht und den politischen Wirkungskreis des herrschaftlichen Auftraggebers.

Palazzo Rucellai.
Leon Battista Alberti, aus der Fassade des Palazzo Ruccelai

Bereits bevor Alberti sein gewichtiges Handbuch über die Architektur verfasste, hatte er in seinem ebenso schmalen wie wirkungsmächtigen Büchlein über die Malerei die moderne Gleichung von Bild und Fenster durch einen scheinbar simplen, aber höchst innovativen Satz geprägt: Das neue Bild definierte er als Illusion des Blickes durch ein «offenes Fenster». Alberti kehrte hier den antiken Vergleich, dass ein Ausblick durchs Fenster wie ein gemaltes Gemälde erscheine, kurzerhand um. Das antike «Fenster als Bild» wird zum «Bild als Fenster». Alberti beschreibt das neue, nur noch eine Szene an einem Ort und zu einem Zeitpunkt darstellende Gemälde als scheinbaren Ausblick durch ein ungeteiltes und rechtwinkliges Fenster. Noch die Bezeichnung «Windows» für Bill Gates' Computerprogramm ist als Rückgriff auf die «finestra aperta» Albertis gedeutet worden, namentlich in Anne Freedbergs Buch «Windows - From Alberti to Microsoft».

Der Maler als Erfinder

Das Fenster als Modell und Metapher ist ein Leitmotiv medientheoretisch avancierter Kulturgeschichte. Bis heute gibt es jedoch keine einzige Monografie über die Geschichte gebauter Ausblicksfenster, über die sich wandelnde Gestalt ihrer Rahmungen und Formate und über die inszenierte Aussicht als Thema architektonischer Praxis und Theorie. Es ist selbstverständlich geworden, dass Fenster ungeteilt und rechtwinklig sind. Auch dass sie im Idealfall eine schöne Aussicht eröffnen. Aber das ungeteilt-rechtwinklige Fenster musste in der Renaissance erst neu erfunden werden. Es verbreitete sich in anspruchsvollen Wohnbauten in Italien erst nach 1460. So wundert es nicht, wie deutlich Alberti in seinem Architekturtraktat von 1435/36 betont, dass das neue Gemälde den Blick aus einem rechteckigen Fenster konstruieren solle. Denn Albertis Satz über das Gemälde als rechtwinkliges Fenster war in der Zeit der florentinischen Frührenaissance unvertraut und neu. Die Fenster der repräsentativen Räumlichkeiten florentinischer Familienpaläste zur Zeit Albertis waren keineswegs viereckig, sondern von doppelten Rundbogen bekrönt, ein dekoratives Säulchen wurde in sie mittig eingestellt. Auch klarsichtiges Fensterglas war noch nicht erfunden; ölgetränktes Papier und Butzen trübten die Sicht.

Dalí Frau am Fenster 1925

Aber just im Florenz des Jahres 1435 hatten die Kanoniker der im neuen antikisierenden Stil errichteten Kirche San Lorenzo von Filippo Brunelleschi die Installation ungeteilt-rechtwinkliger Gemälderahmen vorgeschrieben, ausdrücklich ohne die bis anhin üblichen spätgotisch-spitzbogigem Bildrahmen-Aufbauten. Der Maler Filippo Lippi hatte diese Vorgabe noch nicht richtig verstanden: Er fügte ein von zwei vorgeblendeten Rundbögen nach Art der gotischen Fenster gerahmtes, zweigeteiltes Altarbild in den antikischen Rechteck-Rahmen ein. Aber auch Alberti hat die Fenster seines für den Bankier Giovanni Ruccelai errichteten Palasts nicht rechteckig gebaut, sondern nach traditioneller Bauart - entgegen den Vorgaben seines eigenen Architekturtraktates. 

Filippo Lippi, Mariae Verkündigung, San Lorenzo, Florenz

Nur die gemalten Architekturen bedeutender Gemälde und Reliefs der Frührenaissance zeigen häufig rechtwinklige Fenster: als gemalte Erfindung aus der Antike, die noch kaum gebaut wurden. In der gebauten Architektur beginnt sich die rechtwinklige und ungeteilte Rahmenform des Fensters erst vierzig Jahre später zu verbreiten - um das Jahr 1500 war sie dann üblich und ist es bis heute geblieben.

Fensterbild in Urbino und Pesaro

Das neue monoszenische Bild, das einen Ausblick auf die Ferne öffnet, wurde zum Modell des gebauten Ausblicksfensters. Erst seit 1460 werden zunehmend rechteckige Fenster mit antikischer Rahmung gebaut. Federico da Montefeltro, der skrupellose Söldnerführer und geistvolle Mäzen, hatte wenig später, in den Jahren, in denen er seinen Palast in Urbino zu einer von Alberti inspirierten fürstlichen Residenz ausbaute, kurzfristig die Bibliothek des nie in das gefallene Byzanz zurückgekehrten Kardinals Bessarion beherbergt. Die Bücherkisten machten auf ihrem Weg nach Venedig in Urbino Station. In ihnen befand sich eine seltene Handschrift der griechischen Fassung des Codex Justinianus, in der von Aussichtsfenstern die Rede ist. Aussichtsfenster hat Federico denn auch erstmals in der nachantiken Architekturgeschichte bauen lassen: Eine Reihe von fünf grossen Fenstern, deren Rahmungen auf die damals bereits gängige Rahmenformel des Renaissance-Gemäldes anspielten, öffnen die Wand seines Palastgartens.

Urbino, Schlossgarten 

Das Fenster wird hier zum genuin architektonischen Bildmedium, zur Ermöglichung und Rahmung einer bildhaften Aussicht, die durch einen glatten Binnenrahmen aus Marmor zusammengefasst wird. Der Anklang an Rahmenformeln des zeitgenössischen Gemäldes muss den Zeitgenossen, die innerhalb ihrer Gebäude noch von gotisch gestalteten Öffnungen umgeben waren, offenkundig gewesen sein. Dies zeigt Giovanni Bellinis berühmte Pala di Pesaro: eine Marienkrönung, deren gemalte Thronarchitektur ein Aussichtsfenster zeigt, das als Echo des Gemälderahmens erscheint. 

Bellini, Pala di Pesaro, zw. 1471 u. 1483 

Schauöffnungen und Bildgeneratoren 

Ausblicksfenster, aber auch Loggien und andere «Schauöffnungen» (Wolfgang Kemp) der Architektur prägen unser Bild der Welt, indem sie Wirklichkeit bildhaft inszenieren. Denn nicht erst optische Apparate wie Fernrohr und Camera obscura sind bildgenerierende Medien, die Seheindrücke eröffneten, welche ohne diese Apparate nicht möglich sind. Auch Fenster und Türen können im Anschluss an Michel Foucault als «Dispositive», als Formen der Ermöglichung von Praktiken der Sichtbarkeit, verstanden werden. Auf Ausblicke orientiert und kunstvoll gerahmt, wurden sie zu anspruchsvollen Bildmedien der neuzeitlichen Architektur. Der architektonisch gerahmte Ausblick ist - als «gebautes Bild» - eine spezifisch baukünstlerische Interpretation von Natur.


René Magritte, Schlüssel zu den Feldern 

Der Architekt Andrea Palladio, der Maler Paolo Veronese und ihr Auftraggeber Daniele Barbaro, der kunstsinnige Patriarch von Aquileia, haben im zentralen Salon der Villa von Maser architektonisch geöffnete Bildfenster und gemalte Fensterbilder eindrucksvoll nebeneinandergestellt. Fiktive und faktische Aussichten haben dieselbe Höhe des Horizonts. 

Villa Barbaro, Maser

Während aber die Fenster Palladios auf das landwirtschaftlich genutzte Terrain der Gegenwart blicken, entwerfen Veroneses Veduten einen Blick in die Geschichte: auf die Ruinen Roms. Palladio hat auch seine berühmte Villa Rotonda bei Vicenza ausdrücklich als ein Belvedere konzipiert. In seinen «Vier Büchern» hat er ihre Gestalt des Zentralbaus explizit aus seiner Umgebung abgeleitet: Weil man vom gewählten Bauplatz aus, einem «monticello» bei Vicenza, besonders schöne Aussichten in Vorder-, Mittel- und Hintergrund des Landes geniesse, habe er das Gebäude mit vier Aussichtsloggien versehen.


Palladio Villa Rotonda. Vincenza.

Seit der italienischen Renaissance sind kunstvoll inszenierte und gerahmte Aussichten bestimmende Merkmale neuzeitlicher Architektur geblieben. Peter Zumthor und Valerio Olgiati setzen mit ihren Bildfenstern eine Tradition des Aussichtsfensters fort, die am Beginn der Neuzeit in der Malerei neu begründet und erst danach auf die Architektur übertragen wurde. Olgiatis Haus in Wollerau mit seinen betont ausgeschnittenen, innen flach gerahmten Öffnungen wie auch Zumthors rechteckige «Thermenfenster» machen eine Tendenz vom Raum zum Bild anschaulich, die bereits Martin Heidegger im Titel seines Textes «Die Zeit des Weltbildes» benannt hat.

Zumthor, Therme, Vals 

Raumgreifende Panoramen, wie sie Palladio mit der alten Metapher des Hügeltheaters beschrieben hatte, treten in der Moderne zugunsten breitformatiger Fenster-Tableaus und Fenster-Friese in den Hintergrund. Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier haben architektonisch gerahmte Ausblicke in ihren Collagen und Zeichnungen ausdrücklich dargestellt, wie für Letzteren eine Ausstellung des Museum of Modern Art, die derzeit in Barcelona und anschliessend Madrid zu sehen ist, eindrucksvoll belegt. Nachdem der kalifornische «Light and Space»-Künstler Robert Irwin zu Anfang der 1970er Jahre in der Villa Panza di Biumo in Varese ein Fenster mit perspektivisch mehrdeutiger Laibung umgeben und zum Kunstwerk erklärt hat, bauen zeitgenössische Architekten Aussichtsfenster, die wie bildhaft verflachte Screens und Monitoren anmuten. Diese Fensterbilder regen einen neuen Blick auf die Geschichte der Architektur an - als eines Bildmediums.

Prof. Dr. Gerd Blum lehrt Kunstgeschichte in Münster. 2010 erhielt er den Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung Hamburg. Das aus seiner Habilitation hervorgegangene Buch «Idealer Ort und inszenierter Ausblick. Architektur und Landschaft in der italienischen Renaissance» erscheint demnächst im Akademie-Verlag Berlin.

Henri Matisse, Interieur mit Goldfisch

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