Montag, 26. Mai 2014

Veronese in London.


aus nzz.ch, 23. Mai 2014, 05:30                                                 Die Familie des Darius vor Alexander, etwa 1565–156
  
Ordnung, Schönheit, Luxus, Ruhe und Wollust
Bühne frei für Veronese in der Londoner National Gallery. Der Besucher wandelt durch eine Sinfonie aus Licht und Farben, blickt in schöne Gesichter, erfreut sich an Seide, nackter Haut und Marmor – und kann auch über den gemalten schönen Schein nachdenken.

von Andrew John Martin

«Là, tout n'est qu'ordre et beauté / Luxe, calme et volupté.» Der Refrain von Baudelaires Gedicht «L'invitation au voyage» (Einladung zur Reise) trifft die Stimmung in den für die Veronese-Schau reservierten Räumen im Haupttrakt der Londoner National Gallery. Der Ausstellungskurator Xavier F. Salomon hat den jetzt vollständig zu sehenden Bestand des Hauses in chronologischer Hängung mit weiteren Meisterwerken aus aller Welt kombiniert.

Christus und Maria Magdalena, 1548

Den Beginn der kometenhaften Karriere von Paolo Caliari, genannt Veronese (1528–1588), markieren religiöse Bilder wie «Christus und Maria Magdalena» (London, National Gallery). Hier zeigt sich bereits, dass der Maler der antiken Skulptur, die er in Verona und möglicherweise auch in Rom studieren konnte, und der Architektur seines Landsmanns Michele Sanmicheli mehr verdankt als seinem wenig talentierten Lehrer Antonio Badile. Höhepunkte der Ausstellung sind monumentale Altarbilder, intime Andachtsbilder und sinnliche historisch-mythologische Gemälde, die Veronese, der sich 1555 endgültig in Venedig niederliess, für Aristokraten, Kleriker und Konvente schuf, darunter «Das Martyrium des hl. Georg» (Verona, San Giorgio in Braida), «Mars und Venus» (New York, Metropolitan Museum), «Traum der hl. Helena», «Die Familie des Darius vor Alexander» und «Vier Liebesallegorien» (London, National Gallery).

Allegory of Love I - Infidelity, about 1570-75.

Theater, Musik und Mode

Fast alle grossen Kompositionen Veroneses enthalten eindeutig identifizierbare oder aber versteckte Porträts. Gerade deshalb sind die in der Schau gezeigten autonomen Porträts besonders faszinierend. Mit der Ausleihe der Bildnisse von «Iseppo da Porto mit Sohn Leonidas» und «Livia da Porto Thiene mit Tochter Deidamia» aus Florenz und Baltimore gelang dem Kurator eine ebenso sympathische wie instruktive «Familienzusammenführung»; das zwanglose Sitzbildnis eines «Edelmannes aus der Familie Soranzo» (Leeds, Harewood House) weist bereits voraus auf Joshua Reynolds und Thomas Gainsborough.

Iseppo da Porto and his son Leonida, 1552

Theater, Musik und Mode geben den Ton an. Die einheitliche Erscheinung der Ausstellung wird aber auch dadurch erreicht, dass fast ausnahmslos hochqualitative Exponate ausgeliehen werden konnten. Die Problemkandidaten befinden sich im letzten Raum, was den Eindruck verstärkt, Veroneses Schaffenskraft habe in den 1580ern arg nachgelassen, oder aber er habe die Arbeiten verstärkt an seine Mitarbeiter – unter ihnen der Bruder Benedetto und die Söhne Gabriele und Carletto – delegiert. Nichtsdestoweniger setzt der Kurator mit «Die Bekehrung des hl. Pantaleon» (Venedig, San Pantalon) einen fulminanten Schlussakkord.

 
Die Bekehrung des hl. Pantaleone

Im Gegensatz zu Jacopo Tintoretto, dessen Aktivitäten mit wenigen Ausnahmen auf Venedig beschränkt blieben, und zu Tizian, der an Papst, Kaiser, Könige und Herzöge lieferte, stattete Veronese gleichsam flächendeckend Kirchen, Paläste und Villen zwischen Verona und Venedig mit Leinwandbildern und Freskenzyklen aus. Im Vergleich zu seinen beiden langlebigeren Kollegen, die man im vorübergehend Veronese-freien Venezianersaal der National Gallery studieren kann, wirkt unser Maler gefälliger und weniger dramatisch (Baudelaire attestiert selbst seiner Farbe, sie sei «ruhig und heiter»). Dennoch haben sich Generationen von Künstlern von Veronese inspirieren lassen, unter ihnen Anthonis van Dyck, Giambattista Tiepolo und Eugène Delacroix. 

Anbetung der Könige,

Und empfinden wir ihn denn nicht auch als modernen Maler, als einen, der uns etwas zu sagen hat – obwohl wir dies nicht wirklich in Worte fassen können? Das mag daran liegen, dass Veronese der erste grosse Chronist der wirtschaftlichen Dauerkrise war, in der sich Venedig nach Verschiebung der Handelswege im 16. Jahrhundert befand – gerade weil er die damit verbundenen Probleme nicht zeigte. All seine Figuren scheinen beim besten Schneider arbeiten zu lassen, um auf der farbenprächtigen Bühne des Lebens Bella Figura machen zu können.

Portrait of a Lady, known as the 'Bella Nani', about 1560-5.

So ist es vielleicht ein Hauptverdienst der Ausstellung, dass uns bewusst wird, dass Veronese den Menschen über die Zeiten hinweg Harmonie schenken wollte und nicht nur der willige Künstler war, der das Geltungs- und Unterhaltungsbedürfnis seiner damaligen Auftraggeber befriedigte. Bei genauerer Betrachtung entdeckt man dann auch durchaus in den Porträts Züge von Selbstzweifel und in den Altar- und Andachtsbildern eine tief empfundene Religiosität. Bei den mythologisch-erotischen Darstellungen kommt das Spiel mit dem Bildbetrachter hinzu, der die Überlegenheit der Damen über das männliche Geschlecht vorgeführt bekommt. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass sich Veronese mit der Inquisition angelegt hat – wohlwissend, dass ihm in Venedig nichts passieren konnte.

Mars and Venus United by Love, about 1570-1575

In Shakespeares England

Man mag es als Versäumnis werten, dass gerade in London nicht dezidiert auf die traditionelle Veronese-Begeisterung der Engländer eingegangen wurde. Nicholas Penny macht im Vorwort der begleitenden Publikation darauf aufmerksam, dass die Veronese der National Gallery zu den frühesten und auch teuersten Altmeister-Erwerbungen des Museums zählen. Und zählt man die Exponate durch, kommt man zu folgendem Ergebnis: 20 der 50 Bilder befinden sich oder befanden sich zumindest für eine gewisse Zeit auf den Britischen Inseln. So manche Veronese-Anregung für die sich in der Nachfolge Holbeins ausbildende englische Malerschule erfolgte so möglicherweise nicht nur indirekt durch van Dyck, sondern auch direkt in Häusern von Adeligen, die in Italien gekaufte Werke besassen.

«Das Martyrium des Heiligen Georg» (um 1565).
Das Martyrium des Heiligen Georg (um 1565).


Über venezianische Gemälde in englischem Besitz noch vor 1600 wissen wir wenig. Aber es ist bekannt, dass Sir Philip Sydney Veronese 1574 in Venedig für sein Porträt sass. Sir Henry Wotton, legendärer englischer Botschafter in Venedig, kehrte 1594 von seiner ersten Grand Tour zurück. Man fragt sich: Kannte Shakespeare, Autor von «The Merchant of Venice», «Romeo and Juliet» und «The Two Gentlemen of Verona», mehrfigurige Kompositionen unseres Malers, der dem Theater nahestand wie kein anderer?


Jesus im Tempel 

In Verona, wohin die Hälfte der Bilder weiterreisen, um dort vom 5. Juli bis zum 5. Oktober mit weiteren Gemälde-Ausleihen und auch Entwurfszeichnungen und einem frisch restaurierten «Gastmahl» der Veronese-Werkstatt im Palazzo della Gran Guardia gezeigt zu werden (der hl. Georg kommt direkt in seine Kirche zurück), wird man es sich nicht nehmen lassen, zahlreiche Bezüge zum Genius Loci herzustellen. Was könnte das junge Talent in seiner Stadt und in deren Umland nicht alles gesehen und verarbeitet haben? Die von Paola Marini und Bernard Aikema kuratierte Ausstellung und eine ebenso in Verona stattfindende internationale Tagung dürfen mit Spannung erwartet werden. – 

Gastmahl im Hause Levis, Ehemals im Refektorium des Klosters von Ss. Giovanni e Paolo.

Nüchtern betrachtet ist und bleibt der gebürtige Veroneser aber ein Hauptvertreter der venezianischen Malerei. Denn ein vollständiges Bild des Künstlers erhalten wir, über Vicenza, Maser und Padua nach Osten reisend, erst unter den unsere Nacken strapazierenden Deckengemälden in der Libreria und im Dogenpalast, vor dem opulenten «Gastmahl» aus San Zanipolo in den Gallerie dell'Accademia, das dank Thomas Struth auch Freunden zeitgenössischer Kunst ein Begriff ist, und der Hightech-Kopie des noch figurenreicheren Vorgänger-«Gastmahls» in Palladios Refektorium auf der Isola di San Giorgio, dessen Original Napoleon nach Paris verschleppen liess, und nicht zuletzt in Paolos über Jahrzehnte ausgestatteter Grabeskirche San Sebastiano. Neben London und Verona lädt also im «Veronese-Jahr» nach wie vor auch Venedig ein zur Reise.

Perseus and Andromeda, 1575-80

Deshalb zum Schluss zurück zu Baudelaire. Da er in seinem Gedicht Kanäle erwähnt, will die Forschung im Ort seiner Sehnsucht eine holländische Hafenstadt erkennen. Da er aber auch von reichverzierten Decken, Spiegeln und der Pracht des Orients spricht, dürften die Kanäle doch eher auf das Venedig verweisen, das uns Baudelaire als beste aller möglichen Welten schildert: «Dort herrschen Ordnung nur und Schönheit / Luxus, Ruhe und Wollust.»

Veronese: Magnificence in Renaissance Venice. London, National Gallery. Bis 15. Juni 2014. Begleitbuch zur Ausstellung von Xavier F. Salomon, £ 19.99 (Paperback) / £ 35 (gebunden).
  

Nota. -  Über Kunst erfahren wir gar nichts. Dabei meint der Berichterstatter, Veronese sei zum Chronisten des wirtschaftlichen Niedergangs von Venedig geworden, indem er ihn ignorierte. Das wäre ein wahres Kunststück gewesen und harrte der Erläuterung. "Und empfinden wir ihn denn nicht auch als modernen Maler, als einen, der uns etwas zu sagen hat – obwohl wir dies nicht wirklich in Worte fassen können?" Ich muss ehrlich sagen, bislang hatte ich mir noch nicht einmal die Frage gestellt. Als hätte ich geahnt, dass der Autor der NZZ mich doch auf ihr sitzen lassen würde...
JE 
Johannes der Täufer, um 1560 

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