Dienstag, 19. August 2014

Das Reinästhetische gibt es nicht.


Malevitch
 
Gottfried Semper, Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol, [Vortrag 1856; Bln. 1987]: 

Verdienst: Entgegen der ‚reinen’, formalen Ästhetik verweist er darauf, daß im ästhetischen Erleben Bedeutungen (Schemata) wirksam sind, die selber infra-ästhetisch [hypo-, protoästhetisch] sind:
 
1. die Richtung der Massen: Schwerkraft, „Druck von oben nach unten“
2. Richtung des organischen Wachstums: „Drang von unten nach oben“
3. die (horizontale) Gerichtetheit des animalischen Lebens: „von hinten nach vorn“ 
- als Schema des Willens (!)
 
Diese drei Bedeutungen werden in den (plastischen) Formen symbolisiert. 

Als viertes Element fügt er hinzu (im Kunstwerk), daß das Ganze „sich-selbst-symbolisieren“(!!!) muß: „Inhaltsangemessenheit“ (S. 31) [ganz anderes Register] 

- In der Malerei (von der er nicht redet) kommt noch die Farbe hinzu: zunächst hell-dunkel als „Schema“ von Licht und Finsternis. Eine große dunkle Fläche über einer kleinen hellen „drückt“; aber eine große helle Fläche über einer kleinen dunklen ‚aktualisiert’ das Schema von Himmel und Boden... Im Gemälde kommen durch Linien und hell-dunkle Flächen weitere ‚Bewegungen’ hinzu, die Richtungen ‚bedeuten’... 

Es ist gut, weil er so die ästhetischen Erwägungen aus dem Bann des „Schönen“ befreit - immer so, als sei das Schöne „vor“ den Dingen „da“, in denen es allererst „erscheint“... stattdessen: das Schöne sei „die Lösung eines artistischen Problems“ (S.41)! Was sich modern so fortführen läßt: Das ästhetisch-Bedeutende muß nicht „schön“ sein; weil das artistische Problem nicht unbedingt gelöst, sondern u. U. im Kunstwerk erst als solches dargestellt werden muß. (Was aber macht ein Problem zu einem „artistischen“? Doch wieder die Ästhetik?) 

- Für die Musik ist damit nichts gewonnen. Aber es läßt sich dort fortführen. ‚Historisch’ herrscht in der Musik eine doppelte Spannung: die zwischen Lied und Tanz, und die zwischen Ausdruck und Schönheit. Beide kreuzen sich in der Spannung von Melodie und Rhythmus (=Spannung & Entspannung). Auch sie repräsentiert also „Schemata“ aus dem täglichen Leben. Aber der Witz ist: auch sie, nämlich weil und sofern sie Kunst ist, repräsentiert sie - nämlich außerhalb desselben, in einem besonderen Medium, das eben Kunst ist und nicht... Leben (=Arbeit). Kunst ist Kunst, weil und so weit sie die Bedeutungen des „wirklichen Lebens“ aus dessen „Funktionszusammenhängen“ herauslöst und für-sich symbolisiert. Je mehr sie sie herauslöst (identifiziert, verselbständigt), umso mehr ist sie Kunst; und je mehr diese Bedeutungen problematisch sind, umso moderner ist die Kunst... 

Oder - je moderner die Kunst, um so mehr wird sie die (identifizierten) Bedeutungen als problematisch darstellen. Denn die Kunst als Ganze ist selber wiederum ein Symbol - für den Sinn im Unterschied zum Sein; und je mehr man den zu „fassen“ kriegt, umso - problematischer wird er. Darum ist Kunst eo ipso ironisch. 

Malevitch

- Die Bildung der ‚Kunst’ zu einem besonderen [‚Lebensbereich’?] [‚Dimension’?] ist ein Erzeugnis der (westlichen) Moderne (Renaissance). - Indes: Die „Verselbständigung“ der Kunst ‚besteht’ in nichts anderem, als daß sie zu einem Problem wird: „Was ist überhaupt Kunst?“! 

a) Das Schöne ist die Lösung eines artistischen Problems; b) das artistische Problem: Was ist Kunst? c) Das Schöne ist die Antwort auf die Frage: Was ist Kunst. d) Das Schöne ist das, was durch Kunst entstand; Kunst ist, was Schönes schafft; das Naturschöne ist das, was so aussieht, als ob ein Künstler es erschaffen hätte... Wodurch aber wird ein Problem zu einem „artistischen“? Dadurch, daß ein Künstler es sich stellt! Nämlich die Frage: Was ist das Schöne? - Ein Existenzialist avant la lettre. Atemberaubend. - Aber in meinen Worten kann ich es so sagen: Das Schöne „ist“ nur als Problem, und wer es sich „zum Beruf macht“, ist ein Künstler.

b) Genauer besehen ist aber auch die ‚Verselbständigung’ der Kunst ‚nichts anderes’ als die Herausbildung des Künstlers zu einem besondern Phänotyp („Existenzweise“) - wiederum seit der Renaissance. Daß aber Kunst zum Problem wird, ‚setzt sich zusammen’ a) aus der ‚Verselbständigung’ des Künstlers; und b) dem Vordringen des „ästhetischen Erlebens“ auf Kosten des ökonomischen Bedürfnisses (d. h. Fortschritt der ‚Freiheit’). - Beides gehört in der „ästhetischen Theorie“ gesondert betrachtet; um sich hernach (evtl.) als „zwei Seiten derselben Medaille“ zu erweisen, nämlich ‚Wachstum und (ipso facto) Selbstüberwindung der Arbeitsgesellschaft’; Eingreifen des Überflusses ins Reich der Notwendigkeit. 

- Kunst ist die reine Form der Tätigkeit: Tätigkeit aus Freiheit.


Nachtrag. 

Ein rein Ästhetisches kann es schon darum nicht geben, weil man, um es als ein Ästhetisches anschauen zu können, das Anästhetische jederzeit danebensetzen muss. 'Es gibt' sie nur als Gegensatz - aber nur für den, der es auf eins von beiden abgesehen hat.
20. 8. 14


 

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