Freitag, 13. März 2015

Velázquez' Hilanderas und die Geschichte von der Spinne.

aus nzz.ch, 13.3.2015, 11:59 Uhr

Was sehen wir auf Velázquez' «Hilanderas»?
Arachnes unsichtbarer Faden
Seit bekanntwurde, dass Velázquez seinen «Hilanderas» eine versteckte Inszenierung von Ovids Arachne-Mythos eingemalt hat, zieht das Bild die Interpretationen an wie ein Spinnennetz die Fliegen. Aber niemandem fiel auf, welche Rolle Rubens' «Hercules und Omphale» bei der Entstehung des Bildes gespielt hat.

von Edi Zollinger

Jahrhundertelang glaubte man mit Velázquez' «Spinnerinnen» nur die Darstellung einer Teppichmanufaktur vor sich zu haben. Vorne im Bild sah man Arbeiterinnen, die rohe Wolle zu Fäden verarbeiteten, und im Bildhintergrund erkannte man drei edel gekleidete Damen, die einen fertig gewobenen Wandteppich anschauten, vor dem – und das konnte die Betrachter irritieren – eine Figur mit Helm die Hand gegen eine einfache Frau erhob. Die entscheidende Entdeckung machte Diego Angulo Iñíguez 1947. Ihm fiel nicht nur auf, dass Velázquez die zwei Figuren, die im Vordergrund der «Hilanderas» Wollfäden spinnen und aufwickeln, die Positionen von zwei von Michelangelos «Ignudi» an der Decke der Sixtinischen Kapelle hatte einnehmen lassen, sondern auch, dass er den fertigen Wandteppich im Hintergrund seines Bildes ebenfalls nach einem berühmten Vorbild gemalt hatte.


Michelangelo, due ignudi

Herausforderung der Götter

Der Teppich zeigt Tizians «Raub der Europa». Man sieht Jupiter als Stier, wie er sich die schöne Königstochter bereits auf den Rücken geladen hat und mit ihr aufs Meer hinaus schwimmt. Und damit, das war Iñíguez sofort klar, konnte es sich bei der behelmten Figur vor dem Teppich nur um Minerva und bei ihrem Gegenüber nur um Arachne handeln. Den Raub der Europa webt auch das Mädchen Arachne in seinem mythischen Wettkampf mit Minerva, der Göttin der Webkunst.

Arachne, so liest man in Ovids «Metamorphosen», ist eine Lyderin, die so gut weben kann, dass sie es sogar mit Minerva höchstpersönlich aufnehmen will. Es kommt zum Wettkampf um die Krone der Webkunst. Beide, die Göttin und das Mädchen, weben einen Teppich mit «Geschichten aus alten Zeiten». Minerva zeigt ihren Sieg über Neptunus, und in den vier Ecken ihres Gewebes berichtet sie, wie es denen erging, die es schon vor Arachne gewagt hatten, die Götter herauszufordern. Es ging ihnen schlecht. Sie alle wurden zur Strafe in etwas Niedriges verwandelt. Arachne hingegen webt ihrem Teppich Metamorphosen zur Erotik ein, verschiedenste Gestalten, die die Götter annahmen, um menschliche Wesen zu verführen. Zuerst Jupiter als Stier mit Europa. Und sie webt so gut, dass sich Minerva im Wettbewerb nicht als Siegerin ausrufen kann. Die Göttin wird darum furchtbar wütend. Sie zerreisst den Teppich und verwandelt das talentierte Mädchen in eine Spinne.


Velázquez, Las Hilanderas, Bildmitte: Pallas und Arachne vor dem Wandteppich nach Tizian

Seither müssen sich Arachne und alle ihre Nachkommen den Faden für ihre Gewebe aus dem eigenen Bauch ziehen. Sie sind dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit mit durchsichtigem Faden leere Netze zu spinnen. Das nämlich ist Minervas Plan: Nach Arachnes Verwandlung soll nur noch die Göttin selbst mit überlieferten Erzählfäden alte Mythen neu weben dürfen, alle andern müssen ihren Faden selber sekretieren.

Doch Arachnes Erben sind listig. Sie haben einen Weg gefunden, sich über Minervas Gebot hinwegzusetzen und die leeren Stellen in ihrem Gewebe zu füllen. Ihr Trick ist denkbar einfach, aber genial. Zwar ziehen sie seit Minervas Spruch den Faden, wie es die Göttin verlangt, aus ihrem eigenen Innern, aber sie spinnen ihm dabei all das ein, was sie zuvor auf der Netzhaut ihres sehenden und lesenden Auges an schönen Bildern und Texten gefangen haben: alle alten Mythen, die bisher von der Weltliteratur erzählt und von der bildenden Kunst dargestellt worden sind. Sie haben sie in sich aufgenommen, verdaut und zum neuen Garn versponnen. Und weil Arachnes Nachfahren mit fast unsichtbarem Faden weben, kommt ihnen Minerva nicht auf die Schliche. So erkennt sie auch nicht den im Hintergrund der «Hilanderas» versteckten Tizian und übersieht – wie lange Zeit auch alle Kunstkritiker –, dass Velázquez mit seinem Bild eine Neuauflage des mythischen Wettstreits um die Krone der Kunst gewoben hat.


Tizian, Raub der Europa

Künstlerische Tradition

Ovids Arachne-Mythos erzählt nicht nur einen Künstlerwettkampf, er ist auch eine Geschichte über künstlerische Tradition. So ist der Ovid-Forschung schon vor längerem aufgefallen, dass der römische Dichter sich selbst als Nachfolger der mythischen Weberin darstellt. Wenn Ovid schreibt, Arachnes Nachkommen müssten sich den Faden für ihre Gewebe aus dem eigenen Bauch ziehen, dann lässt er sie ihre Werke gleichsam gebären, wie die Mutter ihre Kinder gebiert. Und als Kinder, die er aus sich selbst geboren habe, bezeichnet Ovid selbst auch gern seine eigenen Werke.

Ausserdem erwähnt er gleich im ersten Satz des Mythos, Arachnes Vater, «Colophonius Idmon», sei Wollfärber gewesen. Idmon heisst auf Griechisch «der Wissende»; man vermutet, Ovid habe mit dem «Wissenden von Kolophon» eine versteckte Fährte zum Gelehrten Nikander von Kolophon legen wollen, der schon vor ihm «Metamorphosen» verfasst hat, die heute allerdings verschollen sind. Idmon von Kolophon soll für Ovids dichterischen Vater Nikander stehen, von dem er sich, wie Arachne von ihrem Vater, seinen Dichterfaden färben liess.


Rubens, Pallas und Arachne

Parallel zur Ovid-Forschung haben sich auch die Velázquez-Spezialisten ihre Gedanken zur künstlerischen Tradition gemacht. So wird vermutet, dass sich Velázquez mit seinen «Hilanderas» als legitimer Nachfolger von Tizian und Rubens zeigen wollte. Tatsächlich hat nämlich schon vor ihm auch Rubens mit «Pallas und Arachne» ein Bild über den Wettkampf um die Krone der Webkunst gemalt. Und dieses Bild hat Velázquez wiederum seinem künstlerischen Manifest, den «Meninas», im Hintergrund eingefügt. Zudem hat Rubens zur Zeit, als er mit Velázquez am spanischen Hof weilte, auch eine Kopie von Tizians «Raub der Europa» angefertigt. So dass wir heute nicht wissen können, ob der Arachne-Teppich im Hintergrund von Velázquez' Spinnerinnen-Bild die Kopie eines Tizians oder doch die Kopie eines Rubens zeigt, der einen Tizian imitiert. Auf jeden Fall sieht es ganz danach aus, als hätte sich der spanische Maler mit seinem Bild in die Nachfolge seiner grossen Vorläufer gemalt.

Männer in Frauenkleidern

Natürlich hat sich die Kritik auch dafür interessiert, dass Velázquez die Spinnerinnen im Bildvordergrund ziemlich genau die Haltung von Michelangelos «Ignudi» einnehmen liess. Bei diesem Zitat soll es sich allerdings nicht um eine Hommage an einen grossen Vorläufer handeln. Ganz im Gegenteil. Der amerikanische Kunsthistoriker Giles Knox vermutet vielmehr, Velázquez habe Michelangelos ideal geformte Männer auf seinem Bild absichtlich in Frauen verwandelt und sie niedrige Frauenarbeit verrichten lassen, um deren Maler lächerlich zu machen. Er habe Michelangelos Inkarnationen des neuplatonischen Künstlerkonzepts von der Decke der Sixtinischen Kapelle geholt und in Frauenkleider gesteckt, um sie aus ihrer statischen Haltung zu befreien. Velázquez, so die verkürzte These, soll Michelangelos posierenden Idealfiguren durch seinen Bewegung suggerierenden Pinselduktus gleichsam Leben eingehaucht und dem Künstlergott Michelangelo dadurch die Krone der Malkunst streitig gemacht haben. Wie Arachne, die damals die Göttin Minerva vom Thron stossen wollte, indem sie auf ihrem Teppich den Stier genauso lebendig und täuschend echt zeigte, wie dies vor ihr nur Jupiter mit all seiner göttlichen Verkleidungskunst gelungen war.


Rubens, Hercules und Omphale

Giles Knox' These klingt überzeugend, aber sie löst nicht alle Probleme. Während die Frau, die vorne rechts in den «Hilanderas» den Faden aufwickelt, Arme, Kopf und Beine genau so hält wie ihr männliches Pendant an der Decke der Sixtinischen Kapelle, stimmen bei derjenigen links, die das Spinnrad dreht, weder Arm- noch Kopfhaltung. Warum nur schaut Velázquez' Spinnerin in die andere Richtung als ihr Vorbild bei Michelangelo? Die Antwort auf diese Frage findet sich auf einem Bild von Rubens, das die Lücke zwischen Michelangelo und Velázquez schliesst. Tatsächlich kennt auch die Verwandlung der nackten Hypermänner aus der Sixtinischen Kapelle in die Frauenkleider tragenden Spinnerinnen ein mythisches Vorbild. Rubens hat es mit seinem Gemälde «Herkules und Omphale», dem Missing Link, ins Bild gesetzt, bereits fünfzig Jahre bevor Velázquez seine «Hilanderas» malte.

Wie Ovid in den «Fasti» und den «Heroides» erzählt, war Herkules, der Männlichste aller Superhelden, einst dermassen der schönen Omphale verfallen, dass er sich von ihr in Frauenkleider stecken liess und für sie Frauenarbeit erledigte. Er übergab Omphale, die den Phallus im Namen trägt, seine phallische Keule und bekam dafür von ihr den Spinnrocken. Damit musste er für sie Wolle spinnen. Und genau so hat ihn auch Rubens auf seinem Bild «Herkules und Omphale» dargestellt, den Spinnrocken in der Linken und mit der Rechten den Faden drehend. Den Kopf hat Herkules abgewandt, weil ihn seine Herrin am Ohr zieht.

Er nimmt damit die Haltung der Spinnerin vorne links auf Velázquez' «Hilanderas» vorweg. Diese wendet nicht nur den Blick in die gleiche Richtung wie Rubens' Herkules, neben dessen Kopf wie bei ihr der Spinnrocken emporragt, auch ihr linkes Bein streckt sie wie er. Wie er den Faden in der Rechten hält, so hält sie ihn in der Linken. Mit der Rechten dreht sie schliesslich das Spinnrad, hinter dessen Achse ihre Hand verschwindet. – Und damit gibt uns Velázquez den entscheidenden Wink.


Omphalos, Delphi

Der Name der Lyderin Omphale, die ihren Herkules wie Minerva die Lyderin Arachne zum Spinnen verdammt, steht in enger Verbindung mit dem Omphalos, dem mit Wollgirlanden überzogenen phallischen Kultstein, der in Delphi und später in Rom den «Nabel der Welt» markiert. Omphalos heisst auf Griechisch Nabel oder Achse. Und um diesen «Omphalos» lässt die Spinnerin auf Velázquez' «Hilanderas» das Spinnrad sausen, dass man glaubt, man sehe ein richtiges Rad in richtiger Bewegung vor sich. Velázquez zeigt sich hier als legitimer Erbe seiner mythischen Vorläuferin, von der es bei Ovid heisst, sie habe so perfekt gewoben, dass man glaubte, man habe statt eines Abbildes die Realität selber vor Augen.

Lust und Kreativität

Herkules' Verwandlung vom Supermann in einen Spinner, der Frauenkleider trägt, wird meist als ultimative Erniedrigung des grossen Helden gelesen, durch die ihn die Götter bestrafen wollten. Tatsächlich steckt hinter der mythischen Travestie aber nicht nur eine Strafmetamorphose in Minervas Sinn, sondern auch eine Metamorphose zur Lust, wie sie Arachne auf ihrem Teppich zeigt. Ovid stellt Herkules' und Omphales Rollenwechsel durchaus als erotisches Spiel dar. Immerhin haben die beiden zusammen mindestens einen Sohn gezeugt.

Für den männlichen Künstler in Arachnes Nachfolge dient Herkules' Metamorphose zur Spinnerin zudem als Beispiel, dem man folgen muss, will man als Mann kreativ tätig werden. Es gilt, den Totschläger abzugeben und die Spindel in die Hand zu nehmen. Wie Arachne, die sich den Faden für ihr Netz aus dem eigenen Bauch zieht, und wie ihr Nachkomme Ovid, der seine Gedichte ohne die Hilfe einer Mutter, «sine matre», wie eigene Kinder auf die Welt gestellt haben will, muss der Mann gleichsam zur Werke gebärenden Frau, zur Faden erzeugenden Spinne werden.


Michelangelo, Sixtinische Kapelle, Ausschnitt

Velázquez pflückt sich Michelangelos nackte Supermänner von der Decke der Sixtinischen Kapelle und lässt sie eine Metamorphose zur Spinnerin durchlaufen. In Arachnes Nachfolge arbeitet er seinen «Hilanderas» alte Erzählfäden ein, die er Bildern von Michelangelo, Tizian und Rubens entnommen hat. – Und weil er mit fast unsichtbarem Faden webt, blieb sein aufmüpfiges Spiel bis heute unbemerkt.

Edi Zollinger ist Privatdozent für Französische und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität München. Zuletzt ist von ihm «Proust – Flaubert – Ovid» bei Wilhelm Fink, 2013, erschienen.


Nota. - Ist das nicht phantastisch? Noch heute früh hatte ich von den Hilanderas nichts gehört noch gesehen. Dann finde ich im Internet einen Beitrag in der hochgeschätzten NZZ, klicke ein bisschen rum, und der Abend ist noch nicht zu Ende, da kann ich Ihnen den besagten Beitrag bringen samt allen Bildern, die Sie nur dazu wünschen können. Das hätte sich noch zur Jahrtausendwende kein Mensch träumen lassen. All der Mist, der durch das Internet in die Welt gespült wird, kann den gewaltigen kulturellen Sprung nicht beeinträchtigen, den was weltweite Netz darstellt.
JE

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