Montag, 20. März 2017

Über Heinrich Wölfflins Kunstkategorien.

 
Giovanni Andrea Ansaldo, Enthauptung Johannes' des Täufers, 1615


Heinrich Wölfflin hat die Vorstellung etabliert, dass es in der Kunst 'Kategorien' gäbe, die aus Gegensatzpaaren bestünden, und die Geschichte der Kunst zeichne sich dadurch aus, dass sie epochenweise zwischen diesen Polen hin und her pendele. Daher kommt auch die Auffassung, dass auf eine 'klassizistische' Phase stets eine 'expressionistische' folge; auf die klassizistische Renaissance etwa das expressive Barock. 

Unmittelbar ist freilich die Barockmalerei aus Caravaggios realistischer und Guido Renis... klassizistischer Wendung gegen den geziert expressiven Manierismus entstanden; der Zug zum Expressiven kam erst in der folgenden Generation dazu; vorbereitet freilich im dramatischen Chiaroscuro.

Das ist schematisch ausgedrückt. En détail lassen sich immer eine Menge Ausnahmen von der groben Regel anführen. So das obige Stück. Das ist kein spät-, sondern ein früh-, um nicht zu sagen ein vorbarockes Stück; manieristisch verdreht, in knalligen Farben und... krassem Hell-Dunkel! Wenn der Kenner vielleicht auch meint, dem barocken 'Stil' sei es noch nicht zuzuordnen: Den barocken Geschmack nimmt es aber schon vorweg.

aus Wölfflins Formalismus.

 

Und was ich noch sagen wollte...

...über Wölfflins "Naturgeschichte" der Stilepochen:



... dass es eine Abfolge von Stilepochen – und folglich den Eindruck von einem Fortschritt in der Kunst – anscheinend nur im Abendland gegeben hat.

Das wäre in ästhetischer Hinsicht schon bemerkenswert genug. Ich füge aber noch hinzu: Dass das so ist, hat selbst keinen ästhetischen Grund. Der historische Grund ist vielmehr die Ausbildung einer Öffentlichkeit, und das ist gleichbedeutend mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft.



 

Dass der Geschmack der Individuen schwankt, ist offenkundig. Dass der Geschmack Erfahrungen sammelt, nicht minder. Danach schwankt er viel weniger. Wenn das Leben des Menschen nicht siebenzig, sondern hundertvierzig Jahre währete, wären seine Erfahrungen reicher und sein Urteil sicherer; vielleicht wäre sein Horizont weiter, vielleicht aber wären seine Kriterien enger. Mit andern Worten, sein Urteil wäre qualifizierter.

Und doch müsste er es am Ende seines Lebens mit sich ins Grab nehmen.


 

Eine Qualifizierung über die Generationen hinweg ist nur möglich, wenn die Akkumulation gleichzeitig in einer so großen Zahl von Individuen stattfindet, dass ein paar Ausfälle keine Lücken reißen. Es muss also mindestens im Kreis der herrschenden Klassen genügend Verkehr stattfinden und die Zugehörigkeit zu den Herrschenden muss so sehr der Legitimation bedürfen, dass keiner sich leisten kann, an der Geschmacksbildung nicht teilzunehmen; sich nicht leisten kann , weil er nicht nur herrschen, sondern seine Herrschaft (gegen die der Andern) auch repräsentieren muss.

Die Konkurrenz von Kirche, Aristokratie und städtischem Bürgertum im feudalen Westeuropa war der ideale Boden für die Ausbildung eines streitbaren herrschenden Geschmacks. Zu seinem Klimax wurde die Absolute Monarchie, aber mit der Revolution mischte sich auch der ungebildete Pöbel in die öffentlichen Angelegenheiten, an den Grenzen der guten Gesellschaft begannen die Avantgarden zu florieren, in die geschlossenen Öffentlichkeiten der Vornehmen brach die wüste Öffentlichkeit des Marktes ein...


 

Ein kollektives Subjekt hatte sich gebildet, das seine Launen, Sentimentalitäten und Exzentrizitäten hat wie jedermann, das aber ewig lebt und nichts vergisst; höchstens mal für eine Weile was verbummelt und sich freut, wenn es was wiederfindet. Und das sich alle Weil wichtigtut.

Nur im Abendland konnte es so kommen, und fast möchte man sagen: musste das so kommen.


12. 8. 2015



Kykladen
aus einem Kommentar

So verführerisch Wölfflins fünf Kategorienpaare erscheinen, man wird sie doch rein pragmatisch diskutieren müssen. Denn auf einen philosophischen Über- oder besser Unterbau wie die Kant'sche Kategorientafel müssen sie doch verzichten. 

Kants Kategorien waren eine halbe Sache. Er erklärt nicht, versucht nicht einmal zu erklären, wo er sie – bei ihm sind es vier mal drei – her hat, weshalb es genau so viele und nicht mehr und nicht weniger sind. Er hat gesucht, gesammelt, versucht, hin und her erwogen, manches verworfen, und dies ist eben übriggeblieben. Denn dass er sie auf eine irgend vertretbare Weise 'aus der Erfahrung' induziert hätte, kann er nicht glauben machen; und dass er sie aus logischen Prämissen deduziert hätte, gibt er gar nicht vor. Man weiß schlechterdings nicht, wo sie herkommen und wer oder was sie in die Welt gesetzt hat.

Bogenschütze, Sardinien 

Tatsächlich markieren sie die Grenze, an der Kant selbst bei seiner transzendentalen Herleitung des tatsächlichen Bewusstseins der Menschen aus den urspünglichen Handlungsweisen der Intelligenz Halt gemacht hat. Er hätte weitergehen können, sollen, J. G. Fichte hat es an seiner Stelle getan, um schließlich bei der Tathandlung des 'sich-selbst-setzenden' Ich anzukommen (hinter die man tatsächlich nicht weiter zurück kommt). 


Darauf führt er freilich nicht 'die Welt' zurück, sondern – da folgt er Kant – nur unsere Vorstellungen (Erfahrungen, Begriffe, 'Bilder') von der Welt, denn die sind alles, was wir von der Welt kennen. Aber er führt sie aus ihnen zurück, das, was wir 'von der Welt wissen', ist das faktische Material, in dem er das absichtsvoll anschauende Subjekt freilegt. Das ist die erste, 'analytische' Strecke der Transzendentalphilosophie. Die zweite, 'synthetische' Strecke führt wieder zurück und re konstruiert daraus das tatsächliche Bewusstsein; und unterwegs mag man, wenn man will, auf einer Wegetappe die 'Kategorien' wieder antreffen!

Irgendetwas Vergleichbares hat Wölfflin nicht unternommen. Wieviel seine fünf mal zwei Kategorien taugen, muss die Betrachtung an den Werken immer neu erproben. Sie dogmatisch der Betrachtung vorausschicken darf er nicht; aber eben das ist ihm wohl von Kritikern immer wieder nachgesagt worden.

18. Dezember 2015

Max Ernst




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