Dienstag, 25. August 2015

Das Ästhetische war zuerst das Uneindeutige.

Chatsworth

..am ‚letzten Grund’ des ästhetischen Phänomens fänden sich wohl bionome Vorgänge. Ich habe in dem Zusammenhang die Hypothese von Irenäus Eibl-Eibesfeld (Biologie des menschlichen Verhaltens) erwähnt, die interkulturelle Vorliebe für den Typus ‚Parklandschaft’ rühre von unserer gemeinsamen Herkunft aus der (damaligen) Baumsavanne Ostafrikas her. Aber generalisieren läßt sich der Gesichtspunkt nicht: Der Biologe Adolf Portmann hat seinerzeit einen Gutteil seines Forscherlebens auf den (gelungenen) Nachweis verwandt, daß oft die spektakulärsten ästhetischen Naturphänomene für das Leben der Individuen oder der Art (Erhaltung und Auslese) ohne jede Bedeutung sind, gewissermaßen „nur so“ vorkommen - was ihn zu der bedenklichen Spekulation eines biotischen „Ausdruckstriebes“® veranlaßt hat. Und schließlich könnten bionome Erklärungen nur begründen, warum die Geschmäcker sich ähneln. Das wäre aber das Uninteressante daran. Interessant ist vielmahr, daß die Geschmäcker verschieden sind - und danach mag man sich wundern, daß aber zu vielen Zeiten, an vielen Orten so vielen Menschen dieselben Sachen gefallen! Wie es also zur Stilbildung kommen kann...

Nach der „evolutionären Erkenntnistheorie“ (im Gefolge von K. Lorenz) und einer „evolutionären Ethik“ gibt es inzwischen also auch eine „evolutionäre Ästhetik“... (Klaus Richter)



afrikanisch

Der Anlaß der Erkenntniskritik seit Kant war das evolutionsgeschichtliche Datum, daß uns die Welt sozusagen zweimal widerfährt: einmal (sinnlich) in ihrer unmittelbar gegenständlichen Gegebenheit in Raum und Zeit; und ein zweitesmal (logisch) als Sinn-System. (Nota: der ‚Sinn’ [Geltung , Bedeutung] des je-Einzelnen ist a priori immer nur im Zusammenhang (‚Diskurs’) mit andern gegeben; während man die gegenständlichen Erscheinungen so anschauen kann, als ob sie jeweils an und für sich da wären.)

Diese Verdoppelung ist nicht ursprünglich, sondern wird vom reflektierenden Verstand nachträglich in die ‚natürliche’ Wahrnehmung hineingetragen. Doch die Reflexion prägt, seit das diskursive Denken den öffentlichen Alltag durchzieht, das abendländische Bewußtsein. Das ist der Status quo, von dem wir nolens volens ausgehen, auch wenn wir in die Gattungsgeschichte zurück blicken.


M. Duchamp, Portrait eines Schachspielers, 1911

Ursprünglich lag natürlich der ‚Sinn’ der Dinge in ihrer praktischen Bedeutung für den Erhalt des Lebens = Reproduktion/ Selektion. Daher zum Beispiel die Gestaltgesetze, namentlich Figur/Grund-Schema: Das Bewußtsein erkennt nicht Einzelheiten, sondern interpretiert eine erlebte Situation: es hält Ausschau nach Konfigurationen, die für Erhalt/Auslese ‚bedeutsam’ sind (etwa ‚Angreifer von links hinten’); denn das interessiert, alles andre nicht. Unter gewissen Umständen kann aber gerade dies die ‚Information’ aus einem Bild sein: Da ist keine ‚Figur’, und also kein ‚Grund’, alles verläuft sich „in Wohlgefallen“.

Pollock, [N° wieviel?]

Das reicht stammesgeschichtlich (weit hinter die Hominisation) ins Tier- und womöglich ins Pflanzenreich zurück. Da wird jede Sensation vom Organismus a priori als nützlich oder schädlich gewertet. Ursprünglich lassen sich ‚Empfindung’ und ‚Wertung’ empirisch gar nicht trennen (sondern nur nachträglich im Begriff des reflektierenden Betrachters). Alle Nerven- reizungen werden a priori in Hinblick auf ihre Relevanz für ‚das Leben’ interpretiert: als angenehm oder unangenehm. Sie sind ästhetisch in diesem präzisen Sinn, daß die ‚Wertnehmung’ uno actu mit der ‚Wahrnehmung’ zugleich geschieht (=Urteil ohne ‚Gründe’, vor aller Reflexion). Gilt darum bei Baumgarten, qua aisthesis, als das „niedere“ Erkenntnisvermögen! So weit bleibt die die evolutionäre Ästhetik im Recht.

Je komplexer sich die Organismen entwickeln, um so öfter kommt es aber vor, daß die ‚sensorische Wertung’ uneindeutig ausfällt; daß also das Individuum nicht immer ‚weiß’, ob ihm diese oder jene Sensation eigentlich eher ‚angenehm’ oder eher ‚unangenehm’ ist (Schmerz-Lust in vielen Abstufungen): eine erregte Wachheit. Das ist nun ‚das Ästhetische’ in specie: nicht die Positivität der Empfindung, sondern ihre Problematizität.

Die kennzeichnet in Sonderheit alles Neue. Dem in seiner ökologischen Nische befangenen Organismus kommt das Neue nur als seltene Ausnahme vor. Als aber unsere Vorfahren ihre Urwaldnische verlassen hatten und in der ostafrikanischen Parklandschaft zu einer vagierenden Lebensweise übergingen (=regelmäßig aus einer Nische in eine ganz-andere wechselten), wurde das Neue zu einem dauernden Lebensingrediens; zumal als vor 10 000 Jahren (Sedentarisierung-Ackerbau-Kultur) eine Welt entstand, die nicht nur von ‚Naturgesetzen’, sondern historisch, nämlich von menschlichem Willen gestaltet war. Seither bauschte sich das ‚aisthetisch’ Uneindeutige von einem (jederzeit möglichen) Zufall zu einer mentalen Konstante auf, die seither von vornherein in Betracht kommt und die Wahr-(Wert-)nehmung leitet.
...



Miró, Badende, 1925

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